Tödlich giftig: Schwarzblauer Ölkäfer
„Giftige Ölkäfer breiten sich aus …“, „… tödlich giftig …“, „… ein Käfer kann einen Menschen umbringen“ – das ist der Tenor aus unzähligen Medienbeiträgen, die im Frühjahr und Sommer 2023 fast jeden ansprangen, der das Internet auf dem Handy oder dem Computer startete. Die Telecom war dabei, der SPIEGEL, Spektrum, die ARD und viele andere an sich honorige Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk- und Fernsehsender. Die Berichtigungen und „Gegendarstellungen“ sind weitgehend untergegangen.
Als der Schwarzblaue Ölkäfer (Meloe proscarabaeus) 2020 zum „Insekt des Jahres“ gekürt wurde, hieß es in der Erklärung des Senckenberg Deutschen Entomolgischen Instituts, die von dem Entomologen Bernhard Klausnitzer verfasst wurde: „Allen Ölkäfern gemeinsam ist der Besitz des Cantharidins, einem Terpenanhydrid mit der Summenformel C10H12O4 … Für einen erwachsenen Menschen beträgt die LD50 (also die Menge, die die Hälfte der Menschen töten würde) nur 0,05 mg pro kg Körpergewicht. Ein einziger Käfer enthält somit schon eine tödliche Dosis. Bitte nicht anfassen!“
NICHT IN DEN MUND NEHMEN !
Das sagt man seinen Kindern, wenn ihre Welt entdecken, alles anfassen, ihre Welt auf diese Weise Be-Greifen lernen und reflexartig an (fast) allem lutschen, was sie in die Hand bekommen. Das man das Erwachsenen auch noch sagen muss, wenn sie einem Ölkäfer begegnen, erscheint mir mehr als bedenklich.
Die LD50, die für die Hälfte einer Organismengruppe lethale Dosis, ist ein Maß der Toxizitätsbestimmung und wird i.d.R. im Tierversuch ermittelt, meistens an Kleinsäugern. Korrekterweise muss immer mit angegeben werden, wie das Toxin verabreicht wurde, ob oral, subkutan, intravenös, intramuskulär, epidermal, per Inhalation oder anders (Hautkontakt und Inhalation scheiden hier aus). Für einen Menschen mit 75 kg Körpermasse beträgt die LD50 von Cantharidin also 3,75 mg, für ein Kind mit 10 kg Masse folglich 0,5 mg. Das gilt ausdrücklich für den Fall, dass das Cantharidin vollständig in den Körper gelangt ist, entweder über den Verdauungstrakt oder die Blutbahn. Für den Hautkontakt gilt das nicht!
Abgesehen davon, dass im Grunde keine Veranlassung besteht, einen Ölkäfer zu essen oder in den Mund zu nehmen, ja ihn noch nicht einmal anzufassen, wäre selbst der Hautkontakt mit Cantharidin bei der gebotenen Aufmerksamkeit weitgehend unproblematisch. Das Monoterpen wird von den Ölkäfern nur bei äußerster Gefahr über Poren in den Beingelenken als Wehrsekret abgegeben und ist dort als hellbrauner, öliger Tropfen zu erkennen, schützt also originär vor Fressfeinden. Der lässt sich, sollte es tatsächlich zum Hautkontakt gekommen sein, vernünftigerweise schnell abwischen oder abspülen. Wespen- und Bienenstiche sind deutlich unangenehmer.
Man kann sich dem Käfer aber völlig gefahrlos nähern und ihn beim Fressen oder Poppen beobachten.
Der nach der Bundesartenschutzverordnung „besonders geschützte“ Schwarzblaue Ölkäfer gehört noch zu den häufigeren seiner Familie, ist aber in der Roten Liste Deutschland (Stand 2021) inzwischen als „gefährdet“ eingestuft, denn sein Lebensraum schrumpft zusehends. Er benötigt auf der einen Seite blühende Wiesen und Heiden, auf der anderen Seite offene Bodenstellen. In manchen Jahren kann er lokal recht große Populationen aufbauen, die aber wegen des hochkomplexen und damit störanfälligen Entwicklungsweges* genauso schnell wieder zusammenbrechen, so dass die langfristigen Verluste nur schwer kompensiert werden können. Die den eingangs genannten Meldungen zugrunde liegende Behauptung, der Käfer hätte sich in diesem Jahr (2023) stark vermehrt bzw. ausgebreitet, ist – auf diesen Satz reduziert – falsch und mehrfach richtig gestellt worden. Die Aussage betraf nur einige, lokal sehr begrenzte Populationen. Dafür kann man ihn aber auch in Haus- und Kleingärten hin und wieder beobachten.
* https://www.fotocommunity.de/photo/lehmwespe-symmorphus-mit-oelkaefer-larven-weisswolf/44445299
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